UX von Business Anwendungen – Vorgehen in der Praxis

Moderne, re-designte Business Anwendungen alleine reichen nicht aus, um alle Kunden, Mitarbeiter und Partner zufrieden zu stellen. Zum einen ist die optimale «User Experience» nicht nur von der Software und einer visuell schönen Benutzeroberfläche abhängig und zum anderen sind in der Praxis oft mehrere Systeme, Geräte und unzählige Kontaktpunkte involviert.

 

Bessere User Experience durch benutzerzentrierten Ansatz

Moderne, re-designte Business Anwendungen alleine reichen jedoch bei weitem nicht aus, um alle Kunden, Mitarbeiter und Partner zufrieden zu stellen. Zum einen ist die optimale «User Experience» nicht nur von der Software und einer visuell schönen Benutzeroberfläche abhängig und zum anderen sind in der Praxis oft mehrere Systeme, Geräte und unzählige Kontaktpunkte involviert. Doch das wichtigste überhaupt: Was nützt die schönste Mobile App, das beste Kundenportal und die modernste Business Anwendung wenn der Mehrwert für den Kunden fehlt und die Mitarbeiter in ihren wichtigsten Tätigkeiten nicht optimal unterstützt werden?

Ein Erfolgsfaktor für gelungene Kundenerlebnisse besteht darin, relevante Kundenmehrwerte zu schaffen und gleichzeitig Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Man kann sich dies wie bei einer Waage vorstellen: Auf der einen Seite stehen die Anreize, Motivation und Kundenmehrwerte und auf der anderen Seite die Bedenken, Hindernisse und Stolpersteine. Überwiegt der zweite Teil, wird das Projekt scheitern weil die Kunden- oder Mitarbeiter Akzeptanz fehlt. UX Experten untersuchen beide Seiten dieser Waage anhand bewährter Methoden.

Innovationen und relevante Kundenmehrwerte zu entwickeln bedeutet mehr als nur Brainstorming. In enger Zusammenarbeit mit Kunden, Mitarbeitern und Partnern werden dabei Ideen evaluiert, konkrete Hypothesen formuliert und anhand aktueller Design Thinking Methoden und Proof of Concept Phasen in der Praxis überprüft. Dabei fliessen auch strategische Aspekte, Trends und Marktinformationen ein. Oft kommen moderierte Fokusgruppen zur Erhebung von Anforderungen und Potentialen hinzu.

In der Praxis hat sich ein benutzerzentrierter Ansatz bewährt, bei dem die Bedürfnisse aller Stakeholder d.h. der Kunden, Mitarbeiter und Partner im Zentrum stehen. Ob es sich beim Vorhaben um die Verbesserung einer bestehenden Eigenentwicklung, eine Neuentwicklung oder die Einführung eines Standardproduktes handelt ist zweitrangig.

Als erstes werden zusammen mit dem Kunden die kritischen Prozesse und Business Anforderungen definiert. Danach geht es an das Modellieren der optimalen User Journey für die wichtigsten Zielgruppen unter Berücksichtigung der verwendeten Geräte und des jeweiligen Kontexts der Anwendung. Was sich trivial anhört erfordert in der Praxis viel Erfahrung und Methodenkompetenz. Oft garantieren unabhängige Berater eine Aussensicht die nicht durch die Funktionalität der Business Anwendung dominiert wird. Trotzdem müssen dabei die Möglichkeiten, Vor– und Nachteile der Standardprodukte sehr gut bekannt sein um den richtigen Mix zwischen Standard, Kosten und bester Benutzer Akzeptanz zu erreichen.

Im Rahmen des User Centered Design Prozesses werden dann präzise und aussagekräftige Beschreibungen der typischen Benutzer, deren Motivation und Ziele, welche in Personas festgehalten werden. Anhand von narrativen Beschreibungen der wichtigsten Aufgaben werden User Journeys über alle Touchpoints erstellt und visualisiert. Um die Bedürfnisse und den jeweiligen Nutzungkontext besser zu verstehen, besuchen UX Experten die Anwender auch vor Ort und verschaffen sich so anhand von Befragungen und Beobachtungen ein detailliertes Bild.

Befragungen und Beobachtungen mit der Zielgruppe

Eine bewährte Methode ist dabei das sogenannte Job Shadowing bei dem es sich um eine begleitende Beobachtung der Mitarbeiter bei deren Arbeit handelt. Zusätzlich werden die Mitarbeiter bei der Think Aloud Methode aufgefordert typische Aufgaben live am System zu demonstrieren und dabei laut zu sprechen was sie gerade denken. Dies alles wird gefilmt und von UX Experten beobachtet. Die Erfahrung zeigt, dass bereits mit geringem Aufwand von ca. 5-7 einstündigen Beobachtungen und Interviews über 80% der kritischen Problempunkte und Hindernisse erkannt werden. Ein weiterer Vorteil dieser Methoden ist die Kommunikation für alle Stakeholder im Unternehmen. Das aufbereitete Videomaterial mit dem O-Ton der Benutzer hat schon manchem Entscheidungsträger oder IT Verantwortlichen die Augen geöffnet und das Verbesserungspotential aufgezeigt.

Ergänzend können mittels Expert Reviews existierende oder geplante Business Anwendungen anhand universellen und anerkannten Usability Kriterien und Best Practices analysiert werden. Dabei kommen moderne Usability Heuristiken und Research Ansätze sowie Best Practices Methoden aus dem User Centred Design Umfeld zur Anwendung. Das Resultat ist typischerweise eine konsolidierte Liste von aktuellen Problemen und konkreten Verbesserungsvorschlägen.

Kontinuierliche Exploration, Prototyping und Validierung

Mit «Es gibt nichts Gutes ausser man tut es» hat Erich Kästner bereits 1950 die Notwendigkeit des Handelns auf den Punkt gebracht, wenn man etwas Gutes erreichen will. Lieber früh starten, sich auf den Weg machen und dabei lernen was funktioniert und was nicht funktioniert. Bezogen auf die User Experience heisst dies kontinuierlich neue Ideen zu explorieren und möglichst früh mit den späteren Benutzern zu testen. Dabei reichen bereits einfache Prototypen und Click-Dummies um konkrete Ideen zu validieren. Zudem werden dadurch schon zu Beginn eines Projektes die wichtigen Stakeholder aus Management, Business und IT Abteilungen ins Boot geholt und in den Entstehungsprozess involviert.

Voll integrierter User Experience Design und Entwicklungsprozess

Agile Methoden wie Scrum und Kanban sind in der Software Entwicklung auf dem Vormarsch. 58,3 % der Schweizer Unternehmen entwickeln ihre Softwareprojekte vorwiegend agil. Agilität findet aber immer noch mehrheitlich in der Entwicklung statt. Für andere Bereiche ist sie nur bedingt relevant, am ehesten noch im Projekt-, Produkt- und Releasemanagement. Entsprechend tun sich viele IT-Organisationen in der übergreifenden Zusammenarbeit schwer. Ein gutes Kundenerlebnis kann man jedoch nur durch die enge Abstimmung aller Bereiche erreichen. Ein typisches interdisziplinäres Team benötigt heute neben den Rollen Requirement Engineer, IT Architekt, Entwickler und Tester auch Designer und UX Experten. Dabei wird oft vergessen, dass ein reiner Designer kein UX Experte ist. Ein herkömmlicher Visual- oder Interaction Designer deckt bei weitem nicht den Bereich eines UX Experten ab sondern gestaltet im besten Fall eine einfach zu bedienende Benutzeroberfläche.

Agile Entwicklung und User Experience

Eine optimale «User Experience» ist zudem keine einmalige Sache und nicht durch die Erstellung von UX–Guidlines und Design getan. Vielmehr ist «User Experience» heute ein voll integrierter Bestandteil im Entwicklungsprozess. UX Experten begleiten Unternehmen daher intensiv von der Idee bis zum Go–Live eines Projektes oder Produktes. Dabei arbeiten sie in agilen Teams, packen an wo Bedarf ist und stellen sicher, dass die Benutzerbedürfnisse konstant gemessen und in die Entwicklung eingebracht werden. Erfahrene UX Experten kennen sich aus im Spannungsfeld zwischen Kunden, Benutzer und Entwicklung und wissen wie man interdisziplinäre Teams auf ein gemeinsames Ziel hin ausrichtet.

Tools für nahtlosen Design- und Entwicklungsprozess

Die Digitalisierung macht auch bei den UX Analyse und Design Methoden nicht halt. Mittlerweile stehen unzählige Tools für die Erfassung, Visualisierung und Messung von Kundenbedürfnissen zur Verfügung. Speziell im Bereich Prototyping, Design und Frontend Entwicklung geht der Trend hin zu einem voll integrierten Design und Entwicklungsprozess. Dabei erstellt der UX Experte einen ersten Prototyp und kann direkt online stellen, sowohl für Desktop wie auch Mobil Applikationen. Teams können diese interaktiven Prototypen dann zusammen durchgehen und kommentieren. Selbst Enduser Tests können gleich online durchgeführt und dokumentiert werden. Das finale Design wird dann durch den Visual oder Interactiondesigner in Tools wie Sketch erstellt und über Zeplin oder InVision den Frontend Entwicklern zur Verfügung gestellt. Dabei können die Entwickler direkt auf CSS Code zugreifen der automatisch generiert wurde.

Gute Designer arbeiten heute mit wiederverwendbaren Komponenten. Gerade in grösseren Unternehmen oder bei komplexeren Webportalen und Anwendungen werden zunehmend Design Systeme und UI Frameworks eingesetzt die auf Komponenten basieren. Neben der Wiederverwendbarkeit fördert dies auch das Benutzererlebnis weil dem Benutzer bereits bekannte Funktionen über alle Business Anwendungen des Unternehmens gleich implementiert werden. Einfache Beispiele dazu sind Login, Formulare, Menus, Navigation, Listen und Volltextsuche.

Gutes Design und Emotionen

Entscheidend für den ersten Eindruck einer Business Anwendung ist nach wie vor das visuelle Design. Es trägt massgeblich zur positiven User Experience bei. Benutzer schätzen ansprechende und stimmige Anwendungen, wollen die wichtigsten Informationen auf einen Blick sehen, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden können und erwarten eine intuitive und stringente Navigation.

Dabei machen kleine Dinge bereits einen grossen Eindruck. Im Falle einer Business Anwendung für einen grossen Versicherer wurde eine kundenspezifische, interaktive Grafik entwickelt, welche den Key Account Managern auf einen Blick zeigt, welche Versicherungsarten beim Kunden in der Pipeline oder im Portfolio sind und wo es noch weisse Flecken, sprich Potential, gibt. Dies stimmte die Benutzer vom Start weg positiv und half entscheidend bei der Einführung der neuen, eher funktional und trocken anmutenden Business Lösung. Anschliessend inspirierte die Grafik sogar zum neuen Logo für die Anwendung welches mittlerweile weltweit in der gesamten Projektkommunikation, den Trainingsunterlagen und im Intranet verwendet wird.

Einen Schritt weiter gehen Start-Ups wie MailChimp, ein Anbieter von Newsletter Software in der Cloud. Bereits der Affe im Logo macht MailChimp sympatisch und die ganze Kommunikation in der Applikation ist persönlich und überraschend frisch.

Einwänden und Kritiker begegnen

Gerade im Bereich von Business Anwendung ist das Thema User Experience noch neu und die Projektbeteiligten sind primär mit den Business Anforderungen und Funktionalitäten beschäftigt. User Experience wird mit Interface Design gleichgesetzt und wenn dann doch ein UX Experte involviert wird, nehmen ihn die Entwickler anfänglich als Störfaktor wahr.

Kommentare wie «Das haben wir schon immer erfolgreich so gemacht», «Das ist doch nur die individuelle Meinung eines Kunden der eh keine Ahnung hat» oder «Wir sind schliesslich Marktführer XY und wissen was User Experience ist» sind keine Seltenheit.

Um solchen Einwänden und Kritiker zu begegnen benötigt man Fingerspitzengefühl und Verständnis für die jeweiligen Bedürfnisse. Im Laufe des Projektes zeigt sich aber meistens, dass auch die Entwickler oder Implementationspartner klare Anforderungen und gut validierte Mock-Ups als Basis schätzen und die positiven Feedbacks der Benutzer sowie der gemeinsame Projekterfolg alle Beteiligten stolz auf das Erreichte macht.

Was kommt als nächstes – die Trends

Bereits heute sind längst nicht alle Business Anwendungen und Anbieter auf dem aktuellen Stand hinsichtlich User Experience. Gerade im ERP Bereich gibt es noch monolithische Dinosaurier mit uralten Benutzerschnittstellen.

Gleichzeitig geht die Entwicklung immer schneller voran, es entstehen neue, sehr unterschiedliche Kontaktpunkte und Interfaces. Dazu gehören Conversational Interfaces die sich an Chat Apps wie WhatsUp und Wechat anlehnen und durch intelligente Chatbots den Kundendienst unterstützen oder kommerzielle Angebote platzieren.
Dann wären da die Sprachinterfaces wie Amazon Alexa, Google Home oder Siri die sich in Form von intelligenten Lautsprechern im Wohnzimmer oder als Assistenten beim Autofahren am etablieren sind.

Selbst totgesagte Technologien wie Augmented Reality (AR) erleben gerade einen zweiten Frühling, diesmal mit Anwendungen für Servicetechniker und als interaktive Bedienungs- und Reparaturanleitungen. Maschinen melden in Zukunft automatisch Probleme dem Service Center und Verbrauchsmaterial wird bei Bedarf direkt nachbestellt.

Diese neuen Technologien und Interfaces fordern Unternehmen und UX Experten zusätzlich. Gilt es doch die neuen Trends zu testen und zu bewerten. Vieles mag Spielerei sein, anderes wird ganze Branchen durchschütteln und verändern. User Experience wird zukünftig noch umfassender und gesamtheitlicher angeschaut werden müssen, statt monolithischen Business Anwendungen sind offene Service Architekturen (Stichwort API First) gefragt die sich flexibel an neue Interfaces und Kundenbedürfnisse anpassen.

chris
Chris Bochsler
Managing Partner